14. Dezember: Bethlehem - Sehnsucht nach Frieden

Unser heutiges Türchen führt uns nach Bethlehem.

Dem Bethlehem von heute. 

Lest, was Heike Breitenbach, aufgewachsen in Weidenau, uns geschrieben...


von Heike Breitenbach, Bethlehem im Dezember 2020

Bethlehem...

"... hier habe ich die letzten acht Jahre gelebt. In einigen Wochen kehre ich aus beruflichen Gründen zurück nach Deutschland. Mit gemischten Gefühlen. 

Mit der Freude über meine neue Stelle in Frankfurt und die Möglichkeit, mit meinem Mann, der Palästinenser aus Nazareth ist, in Deutschland leben zu können. 

Traurig bin ich darüber, mich von guten Freunden und meiner Familie in Nazareth verabschieden und eine Lebensweise zurücklassen zu müssen, die manchmal anstrengend war, mich aber sehr bereichert hat.

Mein Alltag in Bethlehem, genauso wie der der meisten Palästinenser*innen, war täglich bestimmt von der israelischen Besatzung. 

In meinem kleinen Bericht über mein Leben in Bethlehem möchte ich darum vor allem über diese Seite berichten. 

Das wird keine allzu fröhlich stimmende Weihnachtserzählung werden, aber ein nachdenkliches Berichten darüber, wie die Realität des Lebens in der Geburtsstadt Jesu im Jahr 2020 aussieht. 

Eine Realität, von der die meisten Menschen schon 10 Kilometer außerhalb Bethlehems in Israel und gewiss in Europa kaum etwas mehr wissen – oder wissen wollen.

Die Mauer in Sichtweite meines Hauses: 

Sie trennt die besetzten palästinensischen Gebiete von Israel. Israel nennt sie »Sicherheitsmauer«. Diejenigen, die aus einer anderen Perspektive auf sie schauen, nennen sie »Apartheidsmauer«. Denn die Mauer hat de facto zur Zementierung eines Apartheidsystems geführt: die Palästinenser im besetzten Westjordanland leben unter israelischer Militärregierung, während die jüdischen Siedler dort unter israelischer Zivilregierung leben. Die Mauer greift auch in das Leben der Palästinenser*innen ein, die in Israel innerhalb der Grenzen von 1948 leben, die sog. »arabischen Israelis«. 

Denn sie trennt mitunter Familien, wenn ein Teil der Familie in Israel und ein Teil in denbesetzten Gebieten lebt. Gemeinsame Treffen sind dann nur in der Westbank möglich, da die israelischen Palästinenser – unter strengen Kontrollen an den Checkpoints – ins Westjordanland reisen dürfen, die Westbank-Palästinenser in der Regel aber nicht nach Israel. Die Mauer wurde an vielen Stellen auf palästinensischem Gebiet der Grenzen von 1967 errichtet und hat dadurch diese Landstücke dem israelischen Staat einverleibt. 



Besonders deutlich wird das in Bethlehem, wo die Mauer teilweise tief in die Stadt hineinschneidet und ihr somit einen Teil des Stadtgebiets gestohlen hat.
Grund hierfür ist der Ort, an dem sich nach christlicher, jüdischer und muslemischer Tradition das Grab Rachels, der Frau Jakobs, befindet, das für alle drei Religionen ein heiliger Ort ist. 
Als sich die Mauer im Bau befand, beschloss die israelische Regierung, Rachels Grab, das auf dem Stadtgebiet Bethlehems lag, von der Mauer zu umschließen und es somit in die Stadt Jerusalem einzugliedern. Dazu wurden die Grundstücke einiger Bewohner Bethlehems durchschnitten, so dass diese heute teils auf der palästinensischen und teils auf der israelischen Seite der Mauer liegen. 
 
Der Zugang zu ihrem eigenen Land, das jetzt jenseits der Mauer in Israel liegt, wurde für die palästinensischen Eigentümer sehr erschwert und ist manchmal nur zwei- bis dreimal pro Jahr erlaubt. 

Durch den Verlauf der Mauer in Bethlehem haben Palästinenser*innen keinen Zugang mehr zum Grab Rachels, das heute eher einer Militärfestung gleicht. 

Die Trennmauer ist bis zu acht Meter hoch, alle paar hundert Meter gibt es israelische Wachttürme, in denen israelische Soldaten schussbereit sitzen. 

An vielen Stellen ist die Mauer mit Graffitis bemalt.

 Aida, der Name eines Flüchtlingscamps, das in meiner Nachbarschaft liegt.

Als Flüchtlingscamps werden Stadtviertel innerhalb palästinensischer Städte im besetzten Westjordanland bezeichnet, in denen Palästinenser mit ihren Nachkommen leben, die während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 aus ihren Städten und Dörfern vertrieben wurden und im damals jordanischen Westjordanland Zuflucht fanden. 

Die meisten dieser Städte und Dörfer wurden von Israel vollkommen zerstört, und auf ihren Ruinen baute der israelische Staat oftmals neue Ortschaften mit neuen Namen auf. 

Ursprünglich als temporäre Zeltstädte errichtet, wandelten sich im Laufe der Jahre die Zelte der Flüchtlingslager zu Häusern – als klar wurde, dass die Flüchtlinge nie mehr in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren konnten und ihre Häuser zerstört waren. 

Inzwischen bilden diese »Lager« eigene, ärmliche und sehr dicht besiedelte Viertel innerhalb palästinensischer Städte. 

Als Symbol der Vertreibung aus ihren Heimatorten im Krieg von 1948, den die Palästinenser Nakba, d.h. »Katastrophe«, nennen, gilt der Schlüssel. 

Der Schlüssel zum Haus, aus dem man vertrieben und das in den allermeisten Fällen zerstört wurde. 

Viele Familien besitzen noch ihren ursprünglichen Hausschlüssel und geben ihn von Generation zu Generation weiter, um die Erinnerung an die zerstörte Heimat und das zerstörte Haus zu bewahren. 

Betritt man das Aida Camp in Bethlehem oder verlässt es, dann geht man durch ein Tor mit einem riesigen Schlüssel über dem Querbogen. 

Obwohl im Palästinensischen Autonomiegebiet gelegen, dringt die israelische Armee regelmäßig in die Flüchtlingslager ein.  

Zumeist nachts oder am frühen Morgen kommen die Soldaten, schießen mit Tränengas und führen Razzien durch, um angebliche Terroristen zu verhaften

 Diese »Terroristen« sind zumeist junge Männer oder sogar erst Jugendliche, die vielleicht bei Demonstrationen Steine auf einen der israelischen Wachttürme geworfen haben, aber auch Frauen, die z. B. in der palästinensischen Befreiungsbewegung aktiv sind. 

Nach ihrer Verhaftung werden sie manchmal für einige Tage, manchmal für mehrere Monate, teilweise auch ein Jahr und länger ohne gerichtliche Anklage und ohne Gerichtsprozess in sog. »Administrative Detention« genommen. 

Als Verhaftungsgrund gibt die Armee oder der Inlandsgeheimnis dann lediglich allgemein »Gründe der Sicherheit des Staates Israel« an.

Jeden Morgen, seit acht Jahren, überquere ich zusammen mit tausenden palästinensischen Arbeitern, die eine Arbeitsgenehmigung für Israel haben, den Checkpoint in Bethlehem. 

Das bedeutet jeden Morgen Ungewissheit, wann wir unsere Arbeitsplätze in Jerusalem oder in einer anderen israelischen Stadt erreichen, ob wir ohne Probleme durchkommen, oder ob die israelischen Soldaten das Spiel »Wir sind die Besatzer und zeigen euch das auch« spielen. 

Den Checkpoint betritt man durch eine Metalldrehtür, die die Armee jederzeit per Knopfdruck schließen kann.   

Das tut sie auch immer wieder, oft grundlos, für zehn Minuten, eine halbe Stunde, länger – man kann es nie wissen. 

In dieser Zeit sammelt sich vor dem Eingang dann schnell eine Menschenmenge an, die ungeduldig darauf wartet, dass die Tür wieder geöffnet wird. 

Im Gebäude des Checkpoints selber gelangt man über zwei lange Korridore mit kahlen Betonwänden zur ersten Sicherheitskontrolle, an der – ähnlich der Handgepäckkontrolle an Flughäfen – Taschen durchleuchtet werden und man durch einen Metalldetektor gehen muss. 

Dorthin gelangt man wiederum durch eine Metalldrehtür, die ebenfalls manchmal ohne ersichtlichen Grund von den dahinter sitzenden Soldaten auf unbestimmte Zeit geschlossen wird. Dann bilden sich wieder Menschenschlangen, und wenn die Lampe über der Tür von Rot auf Grün springt, beginnt das Gedrängel darum, wer und wie viele als nächstes durchkommen. 

Dann hofft jeder, dass der Metalldetektor nicht fehlerhafterweise piept, was immer wieder vorkommt, und man schnell zum letzten Kontrollpunkt gelangt. 

Hier werden die Ausweisdokumente bzw. die Arbeitsgenehmigungen auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Dieses täglich sich wiederholende Prozedere an den Checkpoints müssen alle durchlaufen, ob Palästinenser*innen, »arabische Israelis« oder jemand wie ich mit israelischem Identitätsausweis. 

Es ist anstrengend und zermürbend, und selbst wenn man weiß, man hat gültige Papiere, bleibt immer die Ungewissheit, ob alles glatt laufen wird, oder ob die Soldaten versuchen werden, ihre Machtposition zu demonstrieren, um uns das Leben schwer zu machen. Alles hängt vom Wohlwollen der jeweiligen Soldaten ab. 

Ich bewundere die Palästinenser*innen oft dafür, dass sie trotz aller Schikanen und Demütigungen, denen sie täglich an den Checkpoints ausgesetzt sind, nur ganz, ganz selten die Fassung verlieren und wütend werden. Aber sie wissen, dass sie sich solche Gefühlsausbrüche nicht erlauben dürfen, denn dann würde ihnen die Arbeitsgenehmigung entzogen, vielleicht würden sie sogar verhaftet werden. 

 

Bethlehem, die Geburtsstadt Jesu, die Weihnachtsstadt. 

Die Geburtskirche ist für mich eine der schönsten, vielleicht die schönste Kirche in Israel und Palästina. Heutzutage ist die Mehrheit der Bevölkerung Bethlehems muslimisch. 

Ramadan in Bethlehem war für mich immer ein besonderes Erlebnis. 

Das Fastenbrechen und anschließend das einstündige Tarawih-Gebet, das Nachtgebet, das von den Moscheen in der ganzen Stadt erklingt. 

An jedem Freitag im Ramadan strömen die Gläubigen mit Sondergenehmigungen der israelischen Armee nach Jerusalem, um in der Al Aqsa Moschee zu beten. 

Im Vergleich zu den Palästinenser*innen Bethlehems bin ich sehr privilegiert. Trotz Checkpoints, die auch ich zuerst mit allen ihren Schikanen passieren muss, habe ich als israelische Staatsbürgerin das Recht, mich frei innerhalb und zwischen Israel und Palästina zu bewegen. 

Ich habe demokratische Bürgerrechte und lebe in einer Zivilgesellschaft. 

Auch wenn ich im Alltag in Israel manches Mal ungleicher behandelt werde, weil ich nicht jüdisch bin oder weil mein Mann »israelischer Araber« ist, stehen mir grundsätzlich alle diese Rechte zu. 

Die Palästinenser*innen dagegen leben unter Militärgesetzen, ihre Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt.

Selbst wenn sie im sog. »Palästinensischen Autonomiegebiet« leben, zu dem Bethlehem gehört, ist die israelische Besatzungsmacht in allen entscheiden Bereichen des Lebens präsent und dominant.

Trotz der so schweren Bedingungen, unter denen die meisten Palästinenser*innen leben, habe ich die allermeisten Menschen, denen ich in Bethlehem begegnet bin, als so freundliche, offene, herzliche und hilfsbereite Menschen erlebt, wie selten irgendwo anders. 

Wenn ich in einigen Wochen wieder in Deutschland bin, werde ich diese Verbundenheit der Menschen aus Bethlehem miteinander und auch mit demjenigen, der »von außen«, zunächst als ein Fremder, dazu kommt, vermissen. 

Genauso wie den Gebetsruf von der Moschee fünfmal am Tag, der mir immer das Gefühl gab, dass die Welt trotz allem doch letztlich in Ordnung kommen wird".

  

 Wir danken Heike Breitenbach sehr herzlich für Ihren Bericht!

 

Während unserer gemeinsamen Israel-Studienreise im Herbst 2019 haben wir uns mit Heike Breitenbach in Jerusalem getroffen, wo sie einen ganzen Tag mit uns verbracht hat. 

Es war uns wichtig, uns Zeit zu nehmen für die unterschiedlichen Sichtweisen und um die historischen Hintergründe besser verstehen zu lernen (siehe z.B. Reisebericht vom 22.10.19). Alle Begegnungen und Gespräche, die wir während unserer Reise erleben konnten, haben uns einmal mehr bewusst gemacht, wie vielschichtig die Probleme im Nahen Osten sind. 

Wenn wir eins gelernt haben, dann dies: 

Dass es keine einfachen Lösungen gibt. 

Und wie groß die Sehnsucht nach Frieden ist. 

Eine Frage bleibt offen: 

Wie kann es sein, dass ausgerechnet dieser Ort, dessen Name so eng verbunden ist mit dem Gesang der Engel in der Heiligen Nacht, mit ihrem Lied vom "Frieden auf Erden"  -  dass ausgerechnet dieser kleine Ort geradezu zum Symbol geworden ist für einen  schier unlösbar erscheinenden gewaltsamen Konflikt? 

Diese aus Olivenholz geschnitzte Krippe, die wir in einem Laden in Bethlehem fotografiert haben, spricht für sich...

 

Um das Erlebte tiefer zu reflektieren, haben wir uns beim Nachtreffen unserer Gruppe (im Sommer 2020 open-air beim Forsthaus Hohenroth) ausführlich befasst mit einem kleinen Büchlein von Amos Oz. Dieses kleine Büchlein sei allen Interessierten unbedingt zur Lektüre empfohlen (siehe unten).


ZUM WEITERDENKEN UND TIEFERGRABEN:

"Eine Wunde heilt man nicht mit dem Stock" 

Vor genau zwei Jahren starb der große israelische Schriftsteller, Literaturprofessor und Friedensaktivist Amos Oz. In seinem letzten Werk, einem schmalen, kleinformatigen Bändchen mit dem Titel "Die letzte Lektion. Ein Leitfaden für die Zukunft" aus dem Suhrkamp-Verlag, nur 56 Seiten lang, beschreibt Oz, warum er trotz allem die Hoffnung auf Frieden nicht aufgibt.

Nüchtern beschreibt er als jüdischer Israeli, warum er kein Pazifist sein kann:

"... der Aggression muss man nicht selten mit Gewalt Einhalt gebieten. Man braucht einen großen Stock, um sie zu stoppen und niederzuzwingen. Die Aggression ist die Mutter aller Gewalt auf der Welt..."

(Amoz Oz, ebenda, S. 13). 

Aber der Stock kann die Wunde nicht heilen, betont Oz. 
 
Heilung, das ist für den Friedensaktivisten ein langer Prozess. Der seine Zeit brauche und der beiden Konfliktparteien neben Geduld vor allem dies abverlange: Einander zuhören. Den Schmerz des anderen anerkennen. 
 
Und verstehen lernen, dass das in der Dimension der Zeit Verlorene nicht ohne Weiteres in der räumlichen Dimension wieder zurück gewonnen werden kann.  
 
Ein sehr kluges Buch, das die Hoffnung auf Frieden stärkt, ohne sich im Traumtänzerischen zu verlieren. Wer mehr wissen möchte - hier geht es zur Leseprobe (aktiver Link).  



Mit einem kleinen Hoffnungszeichen soll unser heutiges Türchen enden, mit dem Friedenslicht aus Bethlehem. 

Das Friedenslicht aus Bethlehem 

ist eine Initiative des Österreichischen Rundfunks (ORF). Es wird jeweils in der Adventszeit in der Geburtsgrotte der Geburtskirche in Bethlehem entzündet und nach Wien gebracht. Von dort aus wird es in einige europäische Länder weiter gereicht. In Deutschland wird das Licht als Gemeinschaftsaktion unterschiedlicher Pfadfinder*innen-Vereinigungen weitergegeben.   

Gestern Abend um 18 Uhr wurde es in einer kleinen corona-sicheren Zeremonie in Siegen auf dem Kornmarkt / Nikolaikirche in Empfang genommen und ist inzwischen in vielen Kirchen und Häusern angekommen.

Pfadfinderinnen bringen das Friedenslicht in die Laurentiuskirche in Rudersdorf




Mit diesem kleinen Licht, einem Zeichen des Gebets 
verabschieden wir uns für heute.
 
Möge endlich wahr werden, 
was die Engel auf den Feldern Bethlehems gesungen haben:
 
"Ehre sei Gott in der Höhe 
und Friede auf  Erden 
bei den Menschen seines Wohlgefallens!"

 

Bis Morgen, beim nächsten Türchen!






Kommentare

  1. Ja, daß war eine bewegende Fahrt nach Bethlehem im Oktober vor einem Jahr. Und ehrlich gesagt, auch eine etwas gruselige Welt, in die wir da eingetaucht waren. Mein Verständnis für das Leid der Palästinenser ist sehr gewachsen an diesem Tag. Etwas mit den eigenen Sinnen wahrzunehmen, heißt ja, umso mehr begreifen, worum es eigentlich geht. Und das ist so vielschichtig und begleitet von so vielen Verletzungen auf beiden Seiten, daß man sich fragt: wie soll das jemals wieder gut werden.
    Amos Oz, der keine einfachen Lösungen anbietet, hat mir sehr imponiert mit seinem letzten Optimismus und Vertrauen, in die noch nicht entdeckten Fähigkeiten der nachfolgenden Generationen.
    Sein Resümee: "Es wird schwierig werden und kompliziert, es wird wehtun, aber laßt es uns endlich machen, dann haben wir es hinter uns " geht mir bis heute nach.

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