13. Dezember: Da haben die Dornen Rosen getragen

Heute, am 3. Advent, wird es musikalisch!

Ein altes Adventslied erklingt.

Kreiskantor Peter Scholl hilft uns, genauer hinzuhören...

Viel Freude dabei!

 

von Peter Scholl

Maria durch ein Dornwald ging 

Liebe Leser*innen von Staunen und Lernen,

Zum Einstieg in unser heutiges Thema habe ich für Sie  ein kleines Video aus der Siegener Martini-Kirche für Sie vorbereitet:


Und, haben Sie ihn jetzt auch? Den Ohrwurm dieses wunderschönen, traurig-süßen Adventsliedes? 

Ich persönlich liebe dieses schlichte und irgendwie alt klingende Volkslied. Trotz aller Melancholie beherbergt es Hoffnung. Eine im wahrsten Sinne des gedichteten Wortes aufblühende Zuversicht – „…da haben die Dornen Rosen getragen.“ Was für ein starkes Bild!

 

Aber: Ist das Lied überhaupt so alt, wie es sich anhört? 

Warum hat seine Melodie ein so großes Ohrwurm-Potential? 

Und was bedeuten die Bilder der Dornen und der Rosen eigentlich? 

Und ganz nebenbei: Müsste es nicht eigentlich „Stachel“ heißen?

 

Ich möchte gerne versuchen, mich diesen Fragen ein wenig anzunähern. Doch lassen Sie uns zunächst nochmal den Text dieses Liedes vor Augen (bzw. Ohren) führen:

Maria durch ein Dornwald ging,
Kyrie eleison.
Maria durch ein Dornwald ging,
der hat in sieben Jahrn kein Laub getragen.
Jesus und Maria.

Was trug Maria unter ihrem Herzen?
Kyrie eleison.
Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen,
das trug Maria unter ihrem Herzen.
Jesus und Maria.

Da haben die Dornen Rosen getragen,
Kyrie eleison.
Als das Kindlein durch den Wald getragen,
da haben die Dornen Rosen getragen.
Jesus und Maria.

 

Mittelalter oder Romantik?

„Maria durch ein Dornwald ging“ ist ein Adventslied. 

Die Geschichte der Rosen tragenden Dornen hat sich zwar biblisch betrachtet in dieser Form nicht ereignet, die Rahmenhandlung jedoch schon: 

Nach der Ankündigung der Geburt Jesu durch den Engel Gabriel besucht Maria ihre Verwandte Elisabeth (Lukas 1, 39 - 45). 

Der Weg dorthin ins Gebirge – so legt es die Vermutung jedenfalls nahe – ist der Schauplatz für die Fiktion des Rosenwunders.

Das Lied klingt zwar sehr archaisch, aber ob die uns vorliegende Fassung wirklich so alt ist wie sie erscheint, lässt sich nicht schlussendlich klären. 

Erst seit 2013 (!) ist das Lied in einem kirchlichen Gesangbuch zu finden (Gotteslob), vorher fand es vor allem im sogenannten Zupf seine Verbreitung. „Der Zupfgeigenhansel“ entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Zeit der der Natur und dem Volkslied zugewandten Jugendbewegung. 

Vor dem Gotteslob und dem Zupf war das Lied – dort noch mit 7 Strophen – in der Volksliedsammlung Deutscher Liederhort von Ludwig Erk und Franz Magnus Böhme, kurz „Erk-Böhme“, zu finden. Von dort aus lässt sich der Ursprung der Dornwald-Maria dann nur noch einen Schritt weiter verfolgen: „Geistliche Volkslieder mit ihren ursprünglichen Weisen gesammelt aus mündlicher Tradition und seltenen Gesangbüchern“ ist der Titel eines Liederbuchs, dass von August von Haxthausen 1850 herausgegeben wurde. Ob das Lied nun in der Spätromantik und deren Mittelalter-Liebe seinen eigentlichen Ursprung hat, oder ob es tatsächlich auf mündlich überlieferte Quellen aus älteren Zeiten zurückgeht, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen.   


ZUM TIEFERGRABEN: 

Hermann Kurzke und Christiane Schäfer gehen in ihrem Buch „Mythos Maria – Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte“ dieser Herkunftsgeschichte sehr ausführlich nach. Eine vollständige Leseprobe des Dornenwald-Kapitels ist online auf der Homepage der Zeitschrift „Musik und Kirche“ einzusehen (aktiver Link, bitte anklicken).

Eine Auffälligkeit des Textes sei noch erwähnt: das „Kyrie eleison“. Dieser aus der kirchlichen Liturgie bekannte Bittruf „Herr, erbarme dich“ scheint vielleicht – vor allem im Hinblick auf den volkstümlichen Ursprung des Liedes – zunächst etwas fremd zu sein. 

Es handelt sich hier jedoch um eine häufig anzutreffende Form: Die sogenannten Leisen haben sich aus den Litaneien entwickelt, also den gemeinschaftlichen Gebeten, die durch den mehrfachen Wechsel von Vorbeter und immer gleich antwortender Gemeinde gekennzeichnet sind. Gesungen wurden die Leisen vorwiegend bei Prozessionen und Pilgerreisen. Ein Vorsänger stimmt an („Maria durch ein Dornwald ging“), die pilgernde Gemeinde antwortet („Kyrie eleison“). Im Liederbuch von Haxthausen wird unser Lied sogar mit „Wallfahrtsgesang“ bezeichnet. 


Ein Ohrwurm?

Schauen wir uns nun die Melodie ein wenig genauer an. Jede Strophe des Liedes besteht aus fünf Versen. In der Melodie wird jeder dieser Vers mit zwei Takten vertont. Es fallen bei näherer Betrachtung vor allem zwei Dinge auf:

  • Die Melodie des ersten und des letzten Verses sind fast identisch, nur der erste und letzte Ton entfallen am Schluss.
  • Der dritte und der vierte Vers bilden eine Einheit: Jeder Takt besteht hier aus dem gleichen Motiv, das nur jeweils einen Ton nach unten versetzt (sequenziert) wird.

Die folgende Grafik veranschaulicht das sehr deutlich. Vielleicht möchten Sie das Lied jetzt auch einfach mal selbst singen? Dann lässt sich der Melodieaufbau nämlich noch viel besser nachvollziehen!

Nicht nur der Aufbau, sondern auch die beiden Motive sind recht einfach gehalten: 

Motiv a wird durch einen auf- und absteigenden g-Moll-Dreiklang gebildet, ergänzt um den Ton a als Durchgang. 

Motiv b besteht ausschließlich aus Tonschritten, im Prinzip sogar nur aus jeweils einem einzigen zentralen Ton („Maria durch ein Dornwald ging, der hat in siebn Jahrn kein Laub getragen.“), der abwechselnd von oben und unten umspielt wird.


Diese melodiöse Schlichtheit und damit einhergehende Einprägsamkeit ist sicher ein wichtiges Kriterium, warum unser Lied zu einem Ohrwurm werden kann. 

Laut einem Artikel des Magazins „Spektrum der Wissenschaft“ kann sich eine Melodie dann besonders gut in unserem Gehirn einnisten, wenn die Melodie zunächst steigt und anschließend wieder fällt (z.B. „Alle meine Entchen“). 

Auch das ist in unserem Fall gegeben: Das Lied steigt vom Beginn an bis zum „eleison“ fast kontinuierlich um genau eine Oktave. Mit den zentralen Tönen des Motivs b sinkt der Melodieverlauf langsam wieder zum Grund- und Schlusston ab. Der letzte Vers („Jesus und Maria“) „blüht“ dann nochmal kurz auf – ein wie ich finde sehr charakteristisches und inhaltlich stimmiges Merkmal des Dornwald-Liedes. 


ZUM TIEFERGRABEN:  

Der vollständige Artikel Warum bekommen wir einen Ohrwurm? aus dem Magazin Spektrum der Wissenschaft gibt einen interessanten Einblick in die aktuelle Forschung.


HÖREMPFEHLUNG 1: 

Die erste meiner beiden Hörempfehlungen ist die Version des fünfköpfigen Calmus Ensemble Leipzig. Interessant an diesem Arrangement ist u.a. die Bedeutung, die dem „Kyrie“ zuteilwird. Es sind zudem nicht nur die heute gängigen drei Strophen vertont worden, sondern auch die Strophen der älteren Fassung. Die ältere Textfassung stellt übrigens nicht das Aufblühen der Dornen in den Vordergrund (für uns das ja gewissermaßen der Höhepunkt des Liedes), sondern ist vielmehr als Tauf- oder Katechismuslied zu verstehen.

 

Dornen oder Stacheln?

Eigentlich müsste das Lied ja umgeschrieben werden: Aus den Augen eines strengen Botanikers betrachtet handelt es sich bei den aufsitzenden, stechenden Pflanzenteile der Rose nämlich um Stacheln. Dornen hingegen finden sich z.B. beim Kaktus. Aber die Dornen haben sich nun mal landläufig als Bezeichnung durchgesetzt. Und eigentlich ist das ja auch überhaupt nicht relevant, schließlich geht es um die Dornen und Rosen als Symbol.

Wir alle kennen den sprichwörtlichen „Dorn im Auge“ (aus 4. Mose), wenn wir über etwas oder jemanden verärgert sind. Dornen stehen in der Bibel auch für Unfruchtbarkeit, und auch in unserem Lied hat der Dornenwald „in sieben Jahrn kein Laub getragen“. 

Dornen und Rosen sind aber auch ein Gegensatzpaar, das Liebe und Leid, Leben und Sterben als ambivalente Pole menschlichen Lebens abbildet. Auch aus der Märchenwelt ist uns das bekannt: Dornröschen vereint im Namen sogar gleich beide Symbole.

Christian Hartung ("SWR 2: Lied zum Sonntag) fasst die Aussage des Liedes und seiner Symbole folgendermaßen zusammen:

„Gott lässt mitten im abgestorbenen Wald neues Leben wachsen. 
Noch sieht man es nicht. 
Doch es ist schon da. 
 
Jesus ist noch nicht geboren. 
 
Doch die Rosen, die blühen schon, in froher Erwartung. 
Der tote, harte Dornwald wird zum Ort für neues Leben. 
 
Das ist die Verheißung, von der dieses alte Lied erzählt.“

 

Nicht nur in der gegenwärtigen Situation ist für viele Menschen dieser tote, harte Dornwald in ihrem Leben sichtbar und spürbar geworden. Möge das Bild der aufblühenden Rosen, die dieses Lied so einfühlsam abbildet, uns alle mit Zuversicht durch diese besonderen Zeiten tragen!

HÖREMPFEHLUNG 2:  

Das britische Vokalensemble VOCES8 hat eine Bearbeitung des Aschaffenburger Musikers Stefan Claas eingesungen. Intention dieser dreistrophigen Bearbeitung ist das Aufblühen der Rosen, was durch die eindringliche Dynamik und Harmonik der dritten Strophe wunderschön zum Ausdruck kommt!

 

Peter Scholl hat A-Kirchenmusik und Orchesterleitung in Frankfurt am Main studiert... Als Organist, Pianist und Dirigent hat er mit zahlreichen Ensembles zusammen gearbeitet, u.a. mit dem Kölner Kammerorchester unter Helmut Müller-Brühl, der Frankfurter Kantorei, dem Frankfurter Kammerchor, dem Freiburger Vokalensemble und der Kammerphilharmonie Sopot. 

Er hat bei vielen CD- und Rundfunkproduktionen mitgewirkt und Erfahrungen als Korrepetitor an verschiedenen Opernhäusern gesammelt. Peter Scholl war von 2012 bis 2019 künstlerischer Leiter der Kantorei St. Jakob Frankfurt-Bockenheim. Seit 2013 unterrichtet er außerdem Chorleitung an der Musikhochschule in Frankfurt am Main. Er war Stipendiat des Richard-Wagner-Verbandes, des Kuratoriums Bad Homburger Schloss e.V. sowie der Deutschen Studienstiftung. Im Sommer 2019 hat er die Leitung des Bach-Chores Siegen übernommen (zitiert nach dem Eintrag auf der Internetseites des Bach-Chores Siegen).

  

Wir danken Peter Scholl sehr herzlich für seinen Beitrag und wünschen allen einen gesegneten 3. Advent!

Bis morgen, beim nächsten Türchen!

 

Kommentare


  1. Staunen und Lernen - wow: Das ist heute tief berührend gelungen. Die Bilder, der Film in der Martinikirche (längst mein Lieblingsort in Siegen), der Weg von der Melodie hin zur komplexen Harmonie, die kleine Portion Harmonielehre (eigentlich beinhaltet die Bibel ja DIE Harmonielehre schlechthin: Vom Tohu - Wabohu - Chaos hin zum Licht und im Licht Gottes Schalom = Harmonie); dann ist da noch die gut lesbare Interpretation des Textes und die nachvollziehbare Spurensuche nach den Ursprüngen des Liedes. Schließlich die Ermutigung zum selber Singen in den eigenen vier Wänden. Ich bin von der Gesamtkomposition dessen, was sich hinter dem heutigen Törchen verbirgt, sehr tief berührt und wirklich dankbar... Und die Rosenbilder: Ich kann sie fast riechen die Königin der Blumen und die Dornen bzw. Stachel spüren - bittere Süße, süße Bitternis. Ganz großes Kino!!

    Ich hatte tatsächlich seit Kindestagen keinen Zugang zu dem geheimnisvollen Lied. Vermutlich erschien es den Menschen, denen ich anvertraut war, zu katholisch.

    Es mag sein, dass die Katholiken mit ihrer Lehre von Maria mit all ihren komplexen Einzelheiten einen für Reformierte sehr fremden und nicht nachvollziehbaren Weg gegangen sind... Aber die sich in der Regel in evangelischen Zusammenhängen findende Nicht - Beachtung Marias als theologische Leitfigur geht auch gar nicht. Maria/Mirjam ist nach Lukas 1,26 bis 56 (was für ein komplex - feministischer Abschnitt!!) eben nicht einfach das schüchterne "Heimchen am/hinterm Herd". Sie stellt dem Boten Gottes Fragen, ringt um Übereinstimmung mit ihrer ihr von Gott eher angebotenen als befohlenen Aufgabe. Schließlich überprüft Maria das Zeichen (Elisabeths Schwangerschaft), indem sie sich auf den dornigen und stacheligen Weg macht - von Nazareth in die Berge Judas. Und dann haut sie in 1,46 - 55 ein Lied raus, das die Fundamente einer frauen - oder sonstwie menschenverachtenden Gesellschaft ins Wanken bringt. Bis heute!

    Was für ein Irrweg, dass es zu "Frauen sollen in der Gemeinde den hübschen Mund halten" (1. Korinther 14,34; 1. Timotheus 2,8-15 und erschreckender Weise noch viel öfter) gekommen ist und dass es immer noch XY - Träger gibt, die diese jämmerliche Perspektive in die Welt hinein - brüllen. Im Sinne von "Aktenzeichen xy - ungelöst" bleibt mir dieses Rätsel der Geschichte einer frauenfeindlichen Kirchen - und Theologiegeschichte völlig unerklärlich. Wer die Bibel einigermaßen ohne Vorurteile liest, müsste doch erkennen, dass die Bibel in der Tat in einer patriarchalischen Gesellschaft "spielt". Aber die Perspektive des widerborstigen Aufbruchs bezüglich der Frauenfrage ist doch nicht zu überlesen. Man denke an die Erzmütter des AT,an Mirjam die Prophetin, an Debora, Rut, Hannah - und so viele andere Frauen mehr. Wieder und wieder stehen sie an Wendepunkten der Geschichte des Gottesvolkes und tragen zur rettenden Erneuerung bei - auch im NT (wie man es in Lukas 1 beispielhaft entdecken kann).

    Also, hinter dem heutigen Törchen verbirgt sich Vieles. Danke!!

    Von Scholl erdacht und toll gemacht!!

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