29. November (1. Advent): Einer, dem geholfen wurde

Heute, am 1. Advent, erwartet uns eine faszinierende theologische Entdeckung:

Der allmächtige Gott und sein zerbrechlicher, auf Rettung angewiesener messianischer König. 

von Pfarrer Ralph van Doorn, Ev. Studierendengemeinde Siegen


Tatsächlich so? 
 
Du, Tochter Zion, freue dich sehr, 
und du, Tochter Jerusalem, jauchze! 
Siehe, dein König kommt zu dir, 
ein Gerechter und ein Helfer*
arm und reitet auf einem Esel.  (Sacharja 9, 9)    

Oder doch so?

Siehe, dein König wird kommen – für dich; 
ein Gerechter ist er,  einer, dem geholfen wurde… 
(und der, weil er gespürt hat und weiß, 
wie schwer es ist, sich helfen zu lassen
wirklich helfen kann – allein schon dadurch, 
dass er den leidenden Menschen niemals beschämen würde, wenn er dir und für dich hilfreich nahe kommt; schließlich kann er sogar das Gefühl der Scham, das oft mit der Bedürftigkeit einhergeht, 
aus der Tiefe heraus verstehen und teilen[1]). (Sacharja 9, 9)

  

Das Sternchen*, das dem Wort „Helfer“ an die Seite gestellt wurde, möchte ich als Weihnachtsstern deuten, der auf eine sehr leise Weise den entscheidenden Hinweis auf das Krippenkind in sich trägt. 

Ich habe mir fest vorgenommen, in diesem so merkwürdigen Jahr immer dann an dieses Sternchen* zu denken, wenn ich in der Stadt oder in den Fenstern der im Dunkel liegenden Häuser strahlende Sterne sehe, die die so verstörende Finsternis durchbrechen. 

Und wenn ich einen der nur selten erhältlichen glutenfreien Sterne aus Lebkuchen 
oder einen Zimtstern finden sollte 
(auf andere muss ich leider verzichten), 
dann werde ich, 
wenn ich ihn genussvoll esse, 
verinnerlichen, wofür das Sternchen* steht.

 

Warum?   

In der 2017 neu aufgelegten Lutherbibel kennzeichnet das vielleicht schönste Zeichen aus dem großen Zeichensatz der schreibenden Maschinen (PC genannt) einen Hinweis auf ein andere Möglichkeit, den hebräischen oder griechischen Text zu übersetzen (bzw. ins Deutsche zu zwingen). 

Zum hebräisch überlieferten Sacharjabuch findet sich in Luther 2017 folgender, in eine Fußnote verbannter Hinweis, der es in sich hat: „Andere Übersetzung: `einer, der Hilfe erfahren hat´“

Immerhin: Das Geheimnis des messianischen Königs leuchtet mit Sternchen* versehen in einer Fußnote auf, um dann in der Heiligen Nacht ganz offenbar zu werden – und doch geheimnisvoll zu bleiben.[2]

Spüren Sie – liebe Leserin, lieber Leser – den so unfassbar wichtigen Unterschied zwischen der aktivischen und passivischen Übertragung dessen, was den messianischen König ausmacht?

Ist er nun ein Helfer -

  • im Sinne eines Machers, der genau weiß, was er tut?   
  • Ohne Anfechtung, ohne innere Zerrissenheit?
  • Ein Manager des rettenden Heils halt, ein Heiland groß von Tat… ?

Passt dieses Bild 

  • zum Krippenkind,
  • Gethsemane-Beter 
  • und Kreuzesmann? 
  • Zu dem, der am dritten Tage von den Toten auferweckt wurde?[3]

 

Oder ist dieser König selber ein von der Brutalität des Lebens Gezeichneter, 

  • ein Mensch, der Schmerzen kennt, 
  • den die eng machende Angst beinahe um den Verstand bringt 
  • und der eben selber Hilfe erfahren muss, 
  • um dann anderen Menschen und auch der leidenden Kreatur helfen zu können?

Wenn wir Weihnachten feiern, verbinden wir die passivische Perspektive mit dem Vertrauen auf den allmächtigen Gott – weil Gott auf diese rettende Weise handelt.

Präses Annette Kurschus bringt es auf den Punkt. 
Unter dem nüchternen Titel „Mündlicher Bericht der Präses“ verbirgt sich ein großer Schatz, den zu heben ich Ihnen dringend ans Herz lege (wenn Sie auf die grüne Schrift klicken, öffnet sich das Dokument). 

Die Frage, warum die Landeskirche in Corona – Zeiten so viel Aktivität entfaltet, um jedem Haushalt im Raum unserer Kirche eine Weihnachtsfeier, die wirklich weihnachtlich ist, zu ermöglichen, beantwortet Annette Kurschus mit wunderbaren Worten:   

„Ja. Gerettet sind wir. 
Gottlob. 
Durch das Kind in der Krippe, 
durch den allmächtigen, menschgewordenen Gott, 
in dessen Macht es liegt, ohnmächtig zu sein. 
Angewiesen und hilfsbedürftig. 
Verletzlich und ausgeliefert, 
mit Haut und Haar.  
 
Gerettet sind wir durch den, 
der Licht ins Dunkel bringt, 
Heil und Frieden in unser zerrissenes Leben. 
Weil er gekommen ist, 
machen wir das alles.  
 
Und weil er in diesem Jahr ganz gewiss neu kommen wird. 
Wie immer wir feiern werden. 
Wer weiß: 
 

Vielleicht wird es ein Fest, bei dem Gott uns näher kommt als je zuvor?“[4]

 

Die Zeit des Advents bietet eine so große Chance. Wir bereiten uns auf das Kommen des geretteten Retters vor. Der so tief empathische Gott lädt uns dazu ein, wieder und wieder neu zu empfindsamen Menschen zu werden, denen die Linderung des Leids anderer Geschöpfe zum eigenen Anliegen wird.

 

Gott spart dabei nicht mit seinen wunderbaren Zeichen. 

Eines der schönsten Zeichen des himmlischen Zeichensatzes 

- den Stern* - 

holt er heraus aus den Fußnoten der Weltgeschichte. 

 

Der Stern von Bethlehem bestrahlt von nun an den Kosmos 

und gibt Menschen, Tieren und Pflanzen

– allem, was atmet eben 

– Hoffnung.  

Diese Hoffnung verbindet Zeit und Ewigkeit. 

 

Sie lässt nicht zuschanden werden. 

Denn aus ihr strahlt die Gewissheit, 

dass uns von der Liebe Gottes nichts trennen kann

– weder Tod, noch Leben (siehe Römer 8, 35).

 

 

Ralph van Doorn, geb. 1964, ist Pfarrer der Evangelischen Studierendengemeinde Siegen, Lehrbeauftragter für Judentum und Ethik an der Universität Siegen und Beauftragter des Evangelischen Kirchenkreises Siegen für den christlich-jüdischen Dialog. Zuvor war er Pfarrer der Evangelischen Christuskirchengemeinde Siegen.

Bereits während seines Theologiestudiums haben Ralph van Doorn vor allem die hebräische und die griechische Sprache fasziniert. Am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dieter Vetter entwickelte er ein Konzept zur zeitgemäßen Bibelarbeit in Gemeinden nach der jüdischen Lehrhausidee. Für die Erwachsenenbildung im Ev. Kirchenkreis Siegen ist der leidenschaftliche Theologe ehrenamtlich als Dozent für Biblisches Hebräisch tätig. Dieser Kurs ermöglicht theologischen Laien ein vertieftes Eintauchen in die biblische Sprachwelt.


TIPP ZUM TIEFER GRABEN: 

Wie die eine oder der andere vielleicht schon bemerkt haben wird: Im Text sind bestimmte grün dargestellte Begriffe verlinkt, das heißt: Wenn man darauf klickt, gelangt man zu einer Internetseite mit weiterführenden Informationen. So z.B. zum Präsesbericht 2020 zur Landessynode der Ev. Kirche von Westfalen, oder zu einem Artikel über die astronomischen Theorien zum "Stern von Bethlehem" von "Planet Wissen" vom Südwestdeutschen Rundfunk. Die Fußnoten, die Raph van Doorn gesetzt hat (siehe unten) bieten ebenfalls spannenden Stoff zur Vertiefung. 

Musikalischen Genuß und adventliche Freude - passend zum Thema dieses Türchens vermittelt der Choral "Tochter Zion", gesungen vom Bach-Chor Siegen:


 Viel Freude beim Lesen, Hören und Staunen!

Einen gesegneten Adventssonntag 

und bis morgen beim nächsten "Türchen"!


 



[1] Vergleiche Hebräer 2,18: Denn da er (der Sohn) selbst gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden. Siehe auch Hebräer 4,14 bis 5,10! Im Hebräerbrief wird auf eine uneinholbar tiefe Weise über die Empathiefähigkeit Gottes in Jesus Christus gestaunt. Der Anfang dieser Tradition findet sich in Sacharja 9,9 und in Jesaja 53 und in den drei anderen Liedern vom leidenden Gottesknecht. Im Neuen Testament wird sie entfaltet. Auf etwas andere Art und Weise – aber durchaus ähnlich – findet diese Entfaltung  hin zur Idee des mit – leidenden Gottes auch im nachbiblischen Judentum statt. 

[2] Vergleiche 1. Samuel 25, vor allem Vers 26. Abigajil rettet das messianische Königtum! Der schwer gekränkte David will sich an seinem Peiniger rächen. Männer! Die kluge Frau wendet das Blatt – wie so oft in den biblischen Geschichten es die Frauen! sind, die das Blatt in Richtung „besserer Weg“ wenden. Abigajil haut einen Satz raus, der wahrhaft messianisch ist: Der König dürfe sich nicht „mit eigener Hand … helfen“; er habe die Hilfe von Gott her zu erwarten; er dürfe also keine Macho – Macher sein. Eine tiefe, zu Tränen bringende Verbindung dieser Szene gibt es zum Kreuz Jesu. In Markus 15,31 hören wir, wie Jesus verspottet wird. Da hängt er so grausam sterbend am Kreuz und immer noch gibt es Spott. So abgrundtief verdorben können Menschen werden… Der Spott gipfelt in dem Satz: „Er hat anderen geholfen und kann sich selber nicht helfen.“ Genau so ist es! Der Zynismus der Arroganten offenbart das messianische Geheimnis.

[3] Das Neue Testament kennt beide Formulierungen: „Jesus ist auferstanden“ und Jesus wurde auferweckt“. Das älteste Zeugnis dieser rettenden Tat findet sich in 1. Korinther 15,4 – passivisch formuliert. Etwas verwirrend ist es, dass Luther an anderen Stellen passivische Formulierungen aktivisch übersetzt bzw. ins Deutsche zwingt – so als sei es nicht allein der Treue Gottes geschuldet, das Jesus in Gottes Herrlichkeit hinein gerettet wurde; vergleiche Markus 16,6 „Er ist auferstanden“; vom Griechischen her macht „Er wurde auferweckt“ mehr Sinn.

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