16. Dezember: Ein Tag des Gedenkens

Unser Türchen für heute steht im Zeichen des Gedenkens.

Wir gedenken der Opfer des schweren Luftangriffs vor 76 Jahren, bei dem die Stadt Siegen schwer zerstört wurde.

Wir hören die Stimme eines Zeitzeugen, der sein Leben in den Dienst des Friedens gestellt hat.

Es sind keine leichten Zeit, die wir gerade erleben. 

Mit unserem Kalender möchten wir einen kleinen Beitrag leisten, dass wir gut durch die gegenwärtige Krise kommen. 

Und nun dieser Tag heute - der Tag der Zerstörung Siegens. 

Wir haben uns gefragt:

Sollen wir dazu wirklich ein Kalendertürchen gestalten?

Nicht jede/r wird die Kraft haben, sich dieser Erinnerung auszusetzen. Gerade jetzt.

Was soll das überhaupt bringen? 
 
Diese Frage wird bestimmt gestellt werden. Sie ist ja auch durchaus berechtigt.
 
Welchen Sinn hat dieses immer wieder Hervorkramen der alten Bilder von rauchenden Trümmern und grotesker Verwüstung?
 
Wäre es nicht besser, die alten Fotos in ihren Archiven ruhen zu lassen?
Werden ihre Grautöne nicht ohnehin immer blasser, von Jahr zu Jahr? 


 
Wir haben hin- und her überlegt.  

Und uns schließlich sehr bewusst fürs Gedenken entschieden.

Weil wir glauben: Gedenken hat heilende Kraft.


Im Alten Testament kommt das Wort „Gedenken“ sehr häufig vor, auf Hebräisch heißt es "zachor".

Gedenken im Sinne von "zachor" meint gerade nicht den Zwang, eine alte Wunden immer wieder aufzukratzen. 

Es meint nicht das verbitterte Festklammern an längst Vergangenem, das sich selbst und anderen am liebsten jede gegenwärtige Freude verbieten würde.


"Zachor" meint auch nicht das ritualisierte Gedenken, das pflichtgemäß abgespult wird, weil man das eben so macht, als aufrechte Deutsche.

"Zachor" bedeutet, sich dem Schmerz des Vergangenen bewusst auszusetzen. 

Sich Zeit dafür zu nehmen.

Auch wenn es unangenehm ist.


 

"Zachor“ bedeutet: das geschehene eigene oder fremde Leid anzuerkennen. Ebenso wie die unheilvollen Spuren, die es hinterlassen hat. Es bedeutet, genau hinzuschauen und genau hinzuhören, um zu lernen aus dem, was war.  

So gesehen ist Gedenken die Voraussetzung dafür, dass das, was in der Vergangenheit für so viel Leid gesorgt hat, nicht wieder geschieht.

Und zugleich ist es die Voraussetzung dafür, dass auch das nicht vergessen wird, was inmitten aller Dunkelheit, trotz allem, gut war und hell. 

Denn gerade das Gute und Helle jeder Tage muss in Erinnerung bleiben: 

Menschen, die Widerstand geleistet haben gegen das Unrecht. 

Menschen, die den Mut hatten zu helfen. 

Wir brauchen das Gedenken als Ansporn für heute.


In der Hoffnung, dass unser heutiges Türchen einen bescheidenen Beitrag leisten möge zu einem Gedenken in diesem heilsamen Sinne, wollen wir nun einen Zeitzeugen zu Wort kommen lassen: 

Wilhelm Fries (1901 - 2000) aus Weidenau.

Er selbst (links im Bild) lebt längst nicht mehr, aber seine Tochter, Traute Fries (rechts im Bild), haben wir gefragt. 

Sie hat gern zugesagt und uns die Rede ihres Vaters zur Verfügung gestellt, die er am 16. Dezember 1981 
als 80jähriger auf dem Siegener Marktplatz bei der Abschlusskundgebung der Fackelzug - Friedensdemonstration gehalten hat. 
Veranstaltet hatte diese Demonstration seinerzeit die Arbeitsgemeinschaft Siegener Friedenswochen 1981.

 
Vielen Dank, liebe Traute Fries!



Ansprache von Wilhelm Fries am 16.12.1981 auf dem Siegener Kornmarkt: 

"Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,

als Achtzigjähriger, der auch den 1. Weltkrieg erlebt und damals drei Brüder verloren hat, möchte ich heute über mein Empfinden am 16. Dezember 1944 berichten.

Von meinem damaligen Arbeitgeber, dem Rüstungsbetrieb Weberwerke auf der Sieghütte, reklamiert, brauchte ich nicht Soldat zu werden und war bei meiner Frau und meinen drei Kindern. 

Meine Frau erwartete unser viertes Kind und war am Morgen des 16. Dezembers in der Oberstadt, um für die Kleidermarken Kinderwäsche zu kaufen. Sie hatte keinen Erfolg. Man sagte ihr: "Für das 4. Kind gibt es nichts!"

Nachdem in den Tagen zuvor Hagen und Gießen Großangriffe über sich ergehen lassen mussten, lag es auf der Hand, dass Siegen als Eisenbahnknotenpunkt, Industriegebiet und Wehrmachtsstandort nun nicht mehr verschont würde. 

Am Morgen des 16. Dezembers habe ich die Wasserbehälter kontrolliert und nachgefüllt. Beim Voralarm etwa um 14.30 Uhr habe ich meine Familie in den Sieghütter Bunker gebracht. 

Ich habe in der Nachbarschaft über Funk den Beginn des Fliegerangriffs verfolgt und bin dann beim akuten Alarm zum Bunker gegangen und habe die BDM-Mädchen, die noch Abzeichen für die Winterhilfe verkauften, in den Bunker getrieben.  

Ich sah, wie die Flieger geräuschlos im Gleitflug über Siegen herannahten. 

Man kann schon sagen: dann brach die Hölle los. 

Es war, als bräche der Bunker auseinander. Nach dem Angriff bin ich sofort aus dem Bunker gestürzt. Zuerst sah ich einen schwer verletzten SS-Mann, der mir das Leben sehr schwer gemacht hatte, und bemühte mich um den Rettungsdienst für diesen Menschen. Er starb in derselben Nacht. 

Etwa 50 Tote gab es auf der Sieghütte.

In meiner erhalten gebliebenen Wohnung habe ich eine Brandbombe entfernt und damit einen weiteren Brand verhütet.  

Durch meine guten Beziehungen zu den gefangenen Russen und Franzosen, die in unmittelbarer Nähe untergebracht waren, konnte ich sie für die Löscharbeiten auf der Sieghütte und bei den Weberwerken gewinnen. Bis in die Nacht hinein haben wir gemeinsam zugepackt.  

Auch auf der Sieghütte wütete ein arger Feuersturm, der noch manches erhaltene Wohnhaus in Schutt und Asche legte. Viele Nachbarfamilien waren hart getroffen durch den Verlust ihrer Angehörigen sowie ihres Hab und Gut.

Not und Tod herrschte in unseren Städten durch die andauernden Luftangriffe. Hitlers Androhung, die feindlichen Städte, besonders die englischen, auszuradieren, schlug bitter auf uns zurück.  

Ich erinnere an die groß angelegten Angriffe auf englische Städte, zum Beispiel am 13.8.40 auf Coventry und den Generalangriff am 15.6.44 mit V-1-Waffen auf London. 

Die Steigerung der Kriegspsychose ging über die Zerstörung Dresdens am 13./14.2.45 mit den ungezählten Flüchtlingen auf den Elbwiesen hin zur Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki am 6.8.45. Hier wurde das 1. Experiment mit der bisher satanischsten Waffe, der Atombombe, durchgeführt. Von 300.000 Einwohnern starb die Hälfte sofort und der größte Teil der übrigen nach jahrelangen, qualvollen Leiden.  

Am Ende des Krieges haben wir alle gewünscht, dass unseren Kindern und Kindeskindern solche Stunden nie mehr beschert würden. 

 Hat aus all diesem furchtbaren Geschehen die Menschheit nichts gelernt? 

Offensichtlich nicht, denn mit dem heute vorhandenen Rüstungspotential könnte die Welt vielfach vernichtet werden und zum Untergang der Menschheit führen. 

Wem wird bei diesem Gedanken nicht angst und bange?

Und gerade deswegen müssen wir alle an der Erhaltung des Friedens mitarbeiten!"

 

ZUM TIEFERGRABEN:
 

Wer war Wilhelm Fries?

Der Weidenauer verlor im ersten Weltkrieg drei Brüder, dies führte ihn zur Mitarbeit in der Deutschen Friedensgesellschaft. Außerdem beteiligte er sich an der Gründung  der Kriegsgräberfürsorge in Weidenau und Siegen. 

Von 1933 bis 1941 lebte Wilhelm Fries mit seiner Familie im Haus des jüdischen Kaufmanns Samuel Frank in Weidenau. Er stand im engen Kontakt mit weiteren Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Siegen. Diese freundschaftlichen Kontakte hielt Wilhelm Fries gemeinsam mit seiner Ehefrau Ruth auch während der Zeit des Nationalsozialismus aufrecht. Auch wenn ihn dies immer wieder in unangenehme und gefährliche Situationen brachte. Der langjährige Sozialdemokrat Wilhelm Fries unterstützte seinen jüdischen Freunde und Bekannten auch, als diese immer stärker bedrängt und verfolgt wurden. Bekannt geworden ist z.B., dass Fries jüdische Freunde bis zu deren Deportation auf dem Bahnsteig 4 des Siegener Bahnhofs begleitet hat. Siehe auch: Hellweg, Raimund (2011): "Siegen unter dem Hakenkreuz. Ein alternativer Stadtrundgang", S. 10.  Nach dem Krieg waren die Eheleute Fries wichtige Zeitzeugen.


Luftangriff auf Antwerpen am 16.12.1944, von Siegen aus befohlen

Wilhelm Fries hat in seiner oben zitierten Rede darauf hingewiesen, dass die Bombenangriffe auf die deutschen Städte eine Vorgeschichte hatten: "Hitlers Androhung, die feindlichen Städte, besonders die englischen, auszuradieren, schlug bitter auf uns zurück. Ich erinnere an die groß angelegten Angriffe auf englische Städte, zum Beispiel am 13.8.40 auf Coventry und den Generalangriff am 15.6.44 mit V-1-Waffen auf London".

Allgemein noch viel zu wenig bekannt ist, dass nahezu zeitgleich mit dem alliierten Angriff auf Siegen (Beginn: 14:55 Uhr) ein deutscher Raketenangriff auf die Stadt Antwerpen erfolgte (Beginn 15:20 Uhr). Der Befehl für diesen Angriff, bei dem mehr als 500 Menschen getötet wurden, erfolgte offenbar aus einer Leitstelle im Kulturamt in der Siegener Hermelsbach. 

Nähere Informationen dazu und über die Geschehnisse in Siegen am 16. Dezember 1944 finden sich auf der sehr empfehlenswerten Internetseite "Zeit-Raum Siegen" (aktiver Link, bitte anklicken), einem Kooperationsprojekt der Universität Siegen, des Siegerlandmuseums und des Vereins der Freuden und Förderer des Siegerlandmuseums e.V.


Wir verabschieden uns für heute mit einer adventlichen Sehnsucht,
einer Verheißung aus dem Buch des Propheten Jesaja:

 

Das Volk, das im Finstern wandelt, 
sieht ein großes Licht, 
und über denen, 
die da wohnen im finstern Lande, 
scheint es hell. 

Du weckst lauten Jubel, 
du machst groß die Freude. 
 
Denn jeder Stiefel, 
der mit Gedröhn dahergeht, 
und jeder Mantel, 
durch Blut geschleift, 
wird verbrannt 
und vom Feuer verzehrt. 
 
Denn uns ist ein Kind geboren,  
ein Sohn ist uns gegeben, 
und die Herrschaft 
ist auf seiner Schulter; 
und er heißt 
 
Wunder-Rat, 
Gott-Held, 
Ewig-Vater, 
Friede-Fürst; 
 
auf dass seine Herrschaft groß werde 
und des Friedens kein Ende...

(Jesaja 9, 1 - 2a + 4 - 6)

 

Bis morgen, beim nächsten Türchen! 



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